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So digital geht Litauen gegen Corona vor: Interview mit dem litauischen Botschafter

Botschafter Litauen: Darius Jonas Semaška

Wir haben uns angeschaut, wie Litauen die Krise angegangen ist und wie die Digitalisierung dabei geholfen hat. Der litauische Botschafter Darius Jonas Semaška stand uns dabei Rede und Antwort.

Herr Semaška, Litauen zeigte bereits 2019 als Partnerland der Smart Country Convention, wie weit Land und Bürger bei der Digitalisierung sind. Über 90 Prozent der Verwaltungsdienste finden per Mausklick online statt, ein Unternehmen kann man in drei Tagen gründen. Wie helfen Ihnen digitale Technologien gerade dabei, die Corona-Krise zu meistern?

Nach dem Ausbruch der Coronavirus-Epidemie konnten sich die litauischen Behörden schnell an die Situation anpassen, die Arbeitsprozesse optimieren und wirksame Lösungen für entstandene Probleme finden. Innerhalb weniger Tage gingen die öffentlichen Einrichtungen ins Home Office über, die Sitzungen der Regierung finden online statt. Die Pressekonferenzen, die zunächst draußen durchgeführt wurden, wurden ebenso schnell ins Internet verlegt und nun wird so nicht nur die aktuelle Lage vorgestellt, sondern auch die Fragen beantwortet. 

Während des Hackathons “Hack the Crisis”, welcher gleich nach dem Ausbruch der Epidemie online in Litauen stattfand, wurde ein Chatbot “Viltė” erstellt, der mit Hilfe künstlicher Intelligenz auf Litauisch und Englisch offizielle und zuverlässige Antworten auf Tausende von Bürgerfragen zu Coronavirus, Reisebeschränkungen und staatlicher Unterstützung für Unternehmen sowie viele andere Fragen bietet. Das hilft den Behörden, rund um die Uhr Hilfe zu leisten, die Arbeit von Hotlines zu erleichtern und Fehlinformationen zu vermeiden.

Sehr hilfreich bei der Lösung der durch das Coronavirus in Litauen verursachten Probleme waren die schon vorhandene gute IT-Infrastruktur, Open Data, gute digitale Fähigkeiten der Behördenmitarbeiter und der Bevölkerung sowie Bürgerinitiativen. Schon am Tag nach der Einführung der Quarantäne erstellte die Stadtverwaltung in Vilnius online allen Bürgern zugängliche Dashboards, mit deren Hilfe die Anzahl der Patienten, der Mangel an medizinischer Ausrüstung oder größere Versammlungen in der Stadt erfasst werden können. Alle kommunalen Entscheidungen wurden auf der Grundlage dieser ständig aktualisierten Daten getroffen.

Um die Krise zu bewältigen, wurden auch Drohnen eingesetzt. Sie wurden zum Beispiel zu größeren Menschenversammlungen geschickt, um die Menschen vorzuwarnen und auf die geltenden Verhaltensregeln aufmerksam zu machen. In den Bezirken, in denen statistisch gesehen mehr ältere Menschen wohnen, wurden sie mit Hilfe von Drohnen gebeten, zu Hause zu bleiben. Außerdem wurde in den Städten mithilfe von Drohnen Flyer über das Coronavirus verteilt.  Die Drohnen wurden teilweise zu Menschen geschickt, die sich nach der Rückkehr aus dem Ausland erstmal in der Quarantäne befinden mussten. Das hat der Polizei geholfen, ihre Arbeit effektiver und sicherer zu gestalten.

Während der ersten Woche der Quarantäne schlossen sich zu der IT-Freiwilligenorganisation “Gediminas Legion”, die bis dahin 700 Mitglieder hatte, weitere 5.000 Freiwillige an. Die Organisation versorgt ältere Menschen mit Lebensmitteln, stellt Gesichtsschutzschilder her. Die Datenanalytiker arbeiteten mit Prognosen, es wurde eine Hotline für psychologische Hilfe eingerichtet. 

Wir merken gerade, dass wir etwas langsam ins digitale Zeitalter losgelaufen sind. Ein Beispiel: Unsere Gesundheitsämter sind untereinander leider noch kaum vernetzt, Daten über Infektionen werden per Fax geschickt oder händisch in Excel-Tabellen eingepflegt. Wie laufen die Prozesse in Litauen und wie sind Ihre Erfahrungen bei der Eindämmung des Virus?

Innerhalb weniger Tage wurde das in Litauen verfügbare E-Health-System angepasst, um Probleme und Ausbrüche des Coronavirus zu bewältigen. Zu diesem Zweck wurde ein separates Informationssystem entwickelt, das eine Liste der unter Quarantäne gestellten Personen führt und in eine App zur Überwachung von unter Quarantäne gestellten Personen integriert ist. Alle Labore in Litauen, die die Tests zur Diagnose von COVID-19 durchführen, liefern ihre Ergebnisse einheitlich durch das E-Health-System. Dieser einheitliche Prozess ermöglicht die effektive und kontinuierliche ambulante Versorgung von COVID-19-Patienten. Dadurch werden auch die Hausärzte, bei deren Patienten das Coronavirus diagnostiziert wurde und bei denen eine Behandlung zu Hause empfohlen wird, sofort über die Ergebnisse ihrer Patienten informiert. Sie können sich mit ihnen in Verbindung setzen und den Zustand ihrer Patienten überwachen. 

Um die Verfolgung der Ketten infizierter Personen zu vereinfachen, wurde eine interaktive Karte erstellt, die alle Daten zu den von Infizierten besuchten Orten zusammenfasst und online für alle verfügbar ist.

Während des bereits erwähnten Hackathons “Hack the Crisis” wurde außerdem die App “Quarantäne” entwickelt, die sowohl den Alltag von Infizierten in der Selbstisolation erleichtern, als auch allgemein für die eigene und die Gesundheit der Anderen sorgen soll. Die App hilft täglich die Symptome zu überwachen und vorbeugende Maßnahmen und Selbstisolation zu fördern. 

Nutzt Litauen digitale Technologien im Gesundheitssystem? Und gehen die Bürger digital zum Arzt? 

Aufgrund der in Litauen eingeführten Quarantäne sind alle Arztbesuche eingeschränkt, die meisten werden deshalb anders durchgeführt - per Telefon oder Videoanruf. Auf diesem Weg können Ärzte die Patienten konsultieren, Medikamente verschreiben indem ein elektronisches Rezept ausgestellt wird, eine elektronische Überweisung oder elektronische Krankenschreibung ausstellen und Tests beauftragen. Alle diese Funktionen waren in Litauen auch vor dem Ausbruch der Pandemie möglich, werden jetzt aber viel breiter genutzt. 

Alle Tests für die Diagnose von COVID-19 werden in einem einheitlichen E-Health-System eingetragen. So kann jeder Mensch, bei dem ein Test durchgeführt wurde, die Ergebnisse ganz einfach online in dem elektronischen System abrufen. 

Die litauische App “Act on Crisis”, die den zweiten Platz auf dem weltweiten Hackathon “The Global Hack” gewann, bietet psychologische Hilfe sowie die Möglichkeit, zertifizierte Psychologen durch Video-Chats oder Anrufe zu konsultieren. Mit Hilfe des Programms “MEDO” werden ehrenamtlich und kostenlos Online-Konsultation nicht nur für Bürger, sondern auch für Ärzte, ihre Angehörigen und Apotheker angeboten. 

In Deutschland arbeiten viele Menschen zum ersten Mal im Home Office. Wie sieht es gerade in Litauen aus?

Die Möglichkeit, von zu Hause zu arbeiten, ist in Litauen nicht neu, Home Office wurde von der litauischen Regierung rechtlich im Jahr 2017 reglementiert. Einige Unternehmen fördern sogar stark das Home Office und sparen so viele Ressourcen für die Wartung der Büros. Auch im öffentlichen Bereich war dies nicht neu, aber wenn Home Office früher als Arbeit mit Dokumenten verstanden wurde, wenn keine anderen Aktivitäten geplant waren, so entstand angesichts der Pandemie der Bedarf an Plattformen für Kommunikation und Zusammenarbeit. Die meisten Institutionen waren darauf vorbereitet und haben schon in der Vergangenheit geeignete Maßnahmen für Home Office eingesetzt, aber vielleicht nicht so intensiv wie gerade. 

Regierungsagenturen wie „Invest Lithuania“ bieten digitale Besuche in Litauen für Investoren an. Und „Enterprise Lithuania“ hat über 1.000 Unternehmen mit Online-Geschäften in der Initiative „Es gibt keine Quarantäne im Internet“ gesammelt.

Wie weit ist die Digitalisierung der Schulen in Litauen vorangeschritten? Gehen die Schüler bereits ins virtuelle Klassenzimmer?

Online-Lernen an den Schulen ist in Litauen keine neue Erfahrung. Teile davon, wie zum Beispiel das Informieren der Eltern über die Ergebnisse der Schüler und die Teilnahme am Lernprozess in Echtzeit, als sogenanntes “elektronisches Tagebuch”, digitale Hausaufgaben, digitale Schülerberatungen und vieles mehr wurden seit 2006 in den meisten litauischen Schulen eingeführt und weit verbreitet.

Der Digitalisierungsgrad der Schulen spiegelt sich in einer Umfrage wider, die von dem Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Sport in diesen Tagen durchgeführt wurde. Die Umfrageergebnisse zeigen, dass 92 Prozent der Schulen den Online-Unterricht schon vor der Epidemie praktiziert haben, indem sie zum Beispiel “elektronische Tagebücher” benutzten. Deswegen war der Übergang auf die Online-Lehre, die am 30. März eingeführt wurde, keine große Herausforderung. Eine andere Umfrage, die eine Woche nach der Einführung der Online-Lehre durchgeführt wurde, ergab, dass 90 Prozent der Schulen den Fernunterricht erfolgreich einführten und alle geplante Aktivitäten realisieren konnten. Wenn die Online-Lehre früher nur ein ergänzendes Instrument war, wurde sie während der Quarantäne zum Schlüsselelement für die Sicherstellung des Bildungsprozesses und ermutigte die Schulen, die gemeinsame Ziele fokussierter und innovativer zu verfolgen. 

Eines der guten Beispiele für die langjährige Erfahrung Litauens im Bereich Fernunterricht ist das Gymnasium Ozas in Vilnius, an dem litauische Staatsbürger und Personen litauischer Herkunft schon seit 17 Jahre gemäß staatlich anerkannten Lehrplänen unterrichtet werden und damit die Schule erfolgreich abschließen können. Solche Erfahrungen tragen zur reibungslosen Entwicklung des Bildungsprozesses in der aktuellen Krise bei.

Herr Semaška, vielen Dank für die vielen Einblicke und ihre Zeit!

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